Zum Inhalt springen

Zwischen Bummeln und Blockaden

Die Stadt Oaxaca ist eines der beliebtesten Reiseziele Mexikos – und ein hochpolitischer Ort. Besetzungen gehören hier zum Alltag. Tourist:innen, die ihre Ruhe haben wollen und Aktivist:innen, die diese stören – geht das? Besuch in einer Stadt zwischen zwei Welten.
Die Angehörigen der Opfer von San Mateo del Mar fordern Gerechtigkeit. Foto: Josephine Kanefend

Eigentlich müsste man einen guten Blick haben auf den Palast der Landesregierung, wenn man in der Mitte des Zócalos, des zentralen Platzes im historischen Zentrum von Oaxaca, steht. Aber in letzter Zeit versperren Fotos die Sicht. Grausame Fotos von verstümmelten Leichen – unverpixelt und in Farbe. Daneben sind rund zwei Dutzend Zelte aufgeschlagen, überworfen mit Plastikplanen, als Schutz gegen die Nässe. Es ist Regenzeit in Oaxaca.

Eine Verkäuferin in zapotekischer Tracht sitzt hinter ihrem Stand, ihre Haare hat sie schmuckvoll zu einem Kranz geflochten. Ob sie zu der Zeltblockade gehöre? Nein, sie sei hier, um Gerechtigkeit für einen ihrer Kameraden einzufordern, der vor zwei Jahren umgebracht wurde, erwidert sie und zeigt mit dem Finger auf ein Plakat, von dem ein Mann mit Cowboyhut in seinen Fünfzigern herablächelt. „Das von ihnen da drüben ist grausam“, sagt die Frau und macht eine Kopfbewegung in Richtung der Zelte.

„Sie da drüben“ sind die Angehörigen von 15 Ikoots-Indigenen aus San Mateo del Mar, einer Gemeinde an der Küste des Bundesstaates Oaxaca, die im Juni 2020 während einer Dorfversammlung brutal ermordet wurden. „Seit zwei Jahren und zwei Monaten campieren wir hier“, erzählt Jessica. Sie hat ihren Bruder bei dem Attentat verloren. Die Angehörigen der Opfer fordern Gerechtigkeit und Aufklärung vom mexikanischen Staat. Deshalb haben sie ihr Lager auf dem Zócalo aufgeschlagen.

Zeltblockade vor dem Gebäude der Landesregierung von Oaxaca. Foto: Josephine Kanefend
„Andere Länder haben Apps für das Klima, wir haben welche für Besetzungen“

Wer etwas in Oaxaca erreichen will, besetzt. So kommt es in der Stadt fast täglich zu Straßenblockaden – ein Zustand, der für deutsche Verhältnisse kaum vorstellbar ist, wo ein paar Aktionen von Klimaaktivist:innen bereits eine bundesweite Debatte auslösen. In Oaxaca gibt es sogar eine App, die neben Erdbeben und Baustellen auch über blockierte Straßen informiert. „Andere Länder haben Apps für das Klima, wir haben welche für Besetzungen“, sagt Dr. Manuel Garza und lacht. Er ist Soziologe an der Universität Oaxaca und Experte für soziale Bewegungen in der Region. In Oaxaca haben die sogenannten „Bloqueos“, wie sie im Spanischen genannt werden, eine lange Tradition. „Hier wird alles besetzt“, sagt Garza.

Aber wie kommt es, dass die Stadt so politisch ist? „Im Bundesstaat Oaxaca gibt es 570 Gemeinden, von denen 417 autonom regiert werden, das heißt dort wird selbstständig entschieden, wie Führungspersonen gewählt werden. Nur 153 Kommunen folgen dem bundesweitem Wahlsystem der politischen Parteien“, erklärt Garza. „Es gibt also eine Vielzahl an unterschiedlichen Wahlsystemen. Gleichzeitig wählen die Mitglieder der autonomen Gemeinden aber trotzdem den mexikanischen Präsidenten, das heißt, sie sind Teil beider Systeme.“ Dieser Flickenteppich an Entscheidungsprozessen und die gleichzeitige Verflechtung der politischen Systeme sei einer der Hauptgründe für den politischen Charakter des Staates Oaxaca und seiner gleichnamigen Landeshauptstadt. 

Zurück auf dem Zócalo sitzt eine Frau hinter den Verkaufsständen auf einem Plastikstuhl und macht Pause. Auch sie ist Teil einer Besetzung, denn keiner der aus grauen Plastikplanen und Metallgittern improvisierten Stände scheint offiziell genehmigt zu sein. „Die Stadt will uns irgendwo hinschicken, wo keine Touristen sind“, erzählt sie. Tourist:innen bringen guten Umsatz in der Stadt, nicht nur bei den Verkäufer:innen auf dem Zócalo. Der Staat Oaxaca ist eines der beliebtesten Touristenziele Mexikos, nicht zuletzt wegen seiner malerischen Hauptstadt, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. 2019 kamen rund 1,4 Millionen Tourist:innen nach Oaxaca-Stadt, in den Jahren vor der Pandemie wuchs der Tourismussektor stetig. Doch das war nicht immer so.

Soziologe Dr. Manuel Garza. Foto: privat

2006 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär als Protestierende mehrere Monate lang die Stadt besetzten. Zunächst waren es Lehrer:innen, die bessere Arbeitsbedingungen forderten, später schlossen sich zahlreiche andere Bewegungen dem Protest an. Mehrere Menschen wurden getötet, Medien aus aller Welt berichteten über die Ausschreitungen. Der Aufschrei war groß – und der für die Stadt so wichtige Tourismus brach ein. Die sogenannte Guelagueza, eines der wichtigsten indigenen Kulturveranstaltungen der Stadt und Touristenmagnet, musste abgesagt werden. Die Besetzer:innen organisieren lieber ihre eigene Version des Festes – gratis und unkommerziell. „Es ist nicht so, dass die Aktivist:innen von 2006 gegen den Tourismus waren. Sie haben sich nur gegen die Kommerzialisierung der Stadt und ihrer Kultur aufgelehnt“, sagt Garza.

Reise zur Revolution

Fragt man jedoch die Tourist:innen, die heute im Zentrum von Oaxaca unterwegs sind, haben sich die meisten gar nicht mit der Vergangenheit der Stadt auseinandergesetzt. „Ich interessiere mich nicht wirklich für Politik. Ich möchte einfach die Schönheit genießen und Fotos machen“, sagt Daniel. Er ist mit seiner Familie aus Nordmexiko angereist. Die Plakate am Zócalo hätten sie gesehen aber nicht gelesen, kommentiert sein Vater. Luis und Sol aus Madrid gehen der Politik in Mexiko auch lieber aus dem Weg: „Politische Probleme haben wir in unserem Land schon genug“, sagt Luis. „Das heißt nicht, dass uns die Belange der Leute hier nicht interessieren, aber wir setzen uns eben nicht tiefgreifend damit auseinander.“ Im Detail scheint sich keiner so recht mit den Anliegen der Besetzer:innen zu beschäftigen.

„Bergwerke raus aus Oaxaca“: Die Stadt ist nicht nur bei Tourist:innen beliebt – als Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates Oaxaca ist sie auch Schauplatz vieler politischer Aktionen. Foto: Josephine Kanefend

Die andere Realität ist: „Fotos wie die von San Mateo del Mar sind in Mexiko normal. Ich glaube, ich habe mich daran schon etwas gewöhnt. Aber natürlich ist es nie schön so etwas zu sehen“, sagt Fabio. Der Schweizer ist bereits das vierte Mal in Oaxaca. Zusammen mit seiner Partnerin hat er sich ein Zimmer im „Landhaus“ von Irma Pérez gemietet, wie die Gastgeberin ihr Heim auf AirBnB bewirbt. Seit fünf Jahren vermietet sie Zimmer an Gäste aus aller Welt. „Ich denke, jede Blockade hat ihre Gründe und Forderungen, über die ich nicht urteilen möchte, weil ich sie nicht im Detail kenne“, sagt Pérez über den Aktivismus in ihrer Stadt. „Was ich aber sagen kann ist, dass die Bloqueos Probleme für den Tourismus verursachen.“ Zum Beispiel, wenn die Straße zum Flughafen besetzt wird. Für solche Fälle ist Pérez in einer WhatsApp-Gruppe mit anderen Gastgeber:innen von AirBnB, wo sie sich über Straßenblockaden informieren, um ihren Gästen eine möglichst unkomplizierte An- und Abreise zu ermöglichen. Von Angstsituationen hätte ihr noch niemand erzählt, sagt Pérez, genervt sei der ein oder andere Gast aber schon.

Soziologe Garza zufolge richten sich die Blockaden auch nicht in erster Linie gegen den Tourismus: „Die Menschen sind sich bewusst, dass Oaxaca von dieser Branche lebt. Trotzdem werden sie sich nicht zurückhalten, wenn sie Druck ausüben wollen.“ Außerdem könne man den Tourist:innen so auch eine andere Realität der Stadt zeigen: „Man könnte es sogar als Einladung verstehen: ‚Kommt her, um zu sehen, was in Oaxaca passiert!‘.“ Als es 2006 zu den Ausschreitungen kam, seien Sympathisant:innen der Bewegung sogar extra angereist, um dem Protest beizuwohnen – Revolutionstourismus, sozusagen. Garza warnt aber auch vor einer Romantisierung der Streikkultur: „Es gibt auch Blockaden, die von mafiösen Gruppen organisiert werden, um beispielsweise Geld zu erpressen. Solche Strukturen werden schnell mit Aktivismus verwechselt und dann entsteht natürlich ein falsches Bild.“

Die Angehörigen von San Mateo del Mar gehören sicher keiner Mafia an. Sie fordern schlicht die Aufklärung des schrecklichen Verbrechens an ihren Liebsten. Immerhin: Vor kurzem wurden drei Verdächtige verhaftet, nicht zuletzt wegen des Drucks der Aktivist:innen. Angesichts von 158 weiteren Verhaftungsbeschlüssen ist das für sie allerdings ein schwacher Trost. „Deswegen“, sagt Jessica, „werden wir bleiben, bis die Gerechtigkeit gesiegt hat.“

Anmerkung: Der Artikel ist im August 2022 entstanden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert