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„Wer nicht umgebracht werden will, zensiert sich selbst“

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalist:innen weltweit – trotzdem macht Roselia Chaca diesen Job seit mehr als 20 Jahren. Hier erzählt sie, wie sie sich vor Angriffen schützt und warum sie trotz allem weiter macht.

Anmerkung: Das Interview wurde im September 2022 geführt.

In ihrem Job sei es ein Vorteil, wenn man als Frau keine Kinder hat, sagt Roselia: „Niemand ist von mir abhängig, außer mein Hund.“ Foto: Josephine Kanefend
ALA: Roselia, wie bist du Journalistin geworden?

Roselia: Nach meinem Literaturstudium habe ich zusammen mit einem Freund eine Kulturzeitschrift für junge Menschen gegründet. Wir haben zwar einige Förderungen erhalten, aber mit der Zeit ging uns das Geld aus und ich musste anfangen zu arbeiten. Zu dieser Zeit suchte eine frisch gegründete Lokalzeitung Graphiker:innen. Als ich mich dort bewarb, war die Stelle schon weg, aber sie brauchten noch Reporter:innen – und ich brauchte das Geld. Also sagte ich mir: „Naja, so schwer kann das ja nicht sein. Ich mach’s.“ Der erste Tag war eine Katastrophe. Ich wusste überhaupt nicht, wie man richtig berichtet. Trotzdem habe ich am nächsten Morgen meine Tasche gepackt und bin zur Arbeit gegangen. Und hier bin ich nun, 20 Jahre später!

ALA: Warum bist du im Journalismus geblieben? Du hättest mit deinem Studium auch in einer anderen Branche arbeiten können.

Roselia: Der Beruf der Journalistin hat mich sensibler für die Bedürfnisse der indigenen Gemeinden gemacht. Ich war nie jemand, der nur am Schreibtisch sitzt. Ich gehe immer raus. Gerade am Anfang war ich viel in der Region unterwegs und habe die indigenen Gemeinden kennengelernt. Ihnen wurde oft nicht zugehört, vor allem den Frauen nicht. Ich wollte auf die Bedürfnisse dieser Frauen aufmerksam machen. Ich erzähle gerne Geschichten und der Journalismus macht das möglich. Vielleicht ist es etwas idealistisch, aber ich habe das Gefühl, durch den Journalismus ein bisschen Geschichtenerzählerin sein zu können. Das hält mich im Journalismus. Und das Adrenalin! (lacht)

ALA: Auch dieses Jahr [2022] ist Mexiko wieder das tödlichste Land für Journalist:innen weltweit.1 Wie bewertest du die aktuelle Situation und wie hat sich diese in den letzten Jahren entwickelt?

Roselia: Das stimmt, es ist ein gefährlicher Job. Aber als ich damals anfing, war es noch nicht so schlimm – oder zumindest habe ich es nicht so wahrgenommen. Vielleicht habe ich mich deshalb überhaupt darauf eingelassen. Ich habe den Journalismus nie als etwas Gefährliches angesehen, weil es selten vorkam, dass man von ermordeten Journalist:innen hörte.

ALA: Aber du wusstest doch, dass Journalist:innen getötet werden, als du deinen ersten Job angenommen hast, oder?

Roselia: Nein, ich hatte keine Ahnung!

ALA: Weil die Situation damals noch nicht so schlimm war?

Roselia: Genau. Erst nach ungefähr fünf Jahren habe ich mitbekommen, dass Journalist:innen getötet wurden. Da war ich aber schon mittendrin. Ich wusste nur, dass es gefährlich war – im Sinne von: Du gehst mitten in der Nacht in den Dschungel und hoffst, dass du nicht auf bewaffnete Gruppen triffst, die auf dich schießen. Das war das Gefährlichste, mit dem ich mich konfrontiert sah. Aber hier in der Region war es damals unwahrscheinlich, dass Journalist:innen umgebracht werden. Später hörte ich von Kolleg:innen, die im Norden des Landes ermordet oder vertrieben wurden. Besonders problematisch wurde es vor ca. zehn bis zwölf Jahren, in der Zeit von Calderón.

ALA: Hat das etwas mit dem sogenannten Krieg gegen den Drogenhandel2 zutun?

Roselia: Ja, in der Amtszeit von Felipe Calderón fingen die Kartelle an, um Einflussgebiete zu kämpfen, im ganzen Süden wurde es unruhig. Die Kartelle vom Golf kamen hierher und fingen an zu töten. Ich erinnere mich an ein Ereignis im Jahr 2007, als Zeitungsverkäufer der Zeitung „El Imparcial“ in Salina Cruz ermordet wurden: Ein paar Tage vorher hatte die Armee eine Gruppe von Entführern festgenommen und wir Journalist:innen wurden zur Militärbasis geschickt, um Fotos von ihnen zu machen. Aus irgendeinem Grund habe ich die Fotos nicht veröffentlicht. „El Imparcial“ schon – und die Ausgabe wurde auch noch über Lautsprecher auf der Straße verkauft. Das kostete die Zeitungsverkäufer das Leben. Sie wurden von den Narcos massakriert, weil die das natürlich gar nicht gut fanden. Der Chef von „El Imparcial“ wurde bedroht und ist geflohen, anderen Kolleg:innen, die die Nachricht veröffentlicht hatten, wurde gedroht, dass man sie umbringen würde. Das war das erste Mal, dass wir uns mit derartigen Gewaltverbrechen konfrontiert sahen. Und seitdem hat die Gewalt zugenommen. Nicht nur gegen die Medien, auch gegen die Gesellschaft – Menschen wurden in Bars und Restaurants ermordet.

ALA: Wie ist die Situation momentan für Journalist:innen?

Roselia: Hier im Isthmus3 wurden in der letzten Zeit drei Journalist:innen getötet, der letzte im Februar [sic]. Er war ein Freund von mir. Er hatte eine Kommunalpolitikerin kritisiert, die sich wiederwählen lassen wollte. An dem Morgen postete er etwas darüber auf Facebook und in derselben Nacht sind sie gekommen und haben ihn umgebracht. Es stellte sich heraus, dass der Bruder der besagten Politikerin darin verwickelt war. Er war der Fahrer des Fluchtautos in dieser Nacht. Das zeigt, dass der Journalismus in Gefahr ist, wenn man bestimmte Personen kritisiert oder beispielsweise Korruption aufzeigt.

ALA: Wer sind diese Menschen, die Journalist:innen töten?

Roselia: Wenn Journalist:innen illegale Machenschaften von mächtigen Gruppen aufdecken, werden diese wütend. Das sind kriminelle Vereinigungen, wie zum Beispiel die Gewerkschaften hier in der Region. In anderen Teilen des Landes sind es politische Gruppen.

ALA: Wovor haben sie Angst?

Roselia: Dass herauskommt, dass sie korrupt sind, dass sie sich an öffentlichen Geldern bereichern. Wenn Journalist:innen die Bestechlichkeit von Politiker:innen, Gewerkschaften, Führungspersonen oder Generalstaatsanwälten anprangern, löst das häufig Angriffe auf die Pressefreiheit aus.

ALA: Dann müssen diese Personen aber sehr große Angst haben, wenn sie sogar Menschen töten, um sie zum Schweigen zu bringen.

Roselia: Und es wird ihnen leicht gemacht. Es ist einfach, in diesem Land Journalist:innen zu töten, weil es keine Gerechtigkeit gibt. Wir genießen keinen Schutz. Das ist die Wahrheit. Sie töten uns, weil wir nicht geschützt werden. Wer nicht umgebracht werden will, zensiert sich selbst. Ich rühre zum Beispiel nichts an, was mit dem Drogenhandel zu tun hat und wenn ich über den Interozeanischen Korridor4 schreibe, weiß ich, um welche Gewerkschaften ich einen Bogen machen muss. Das hier ist eine kleine Stadt, die kennen mich. Sie wissen, wo ich wohne, mit wem ich wohne, welches Auto ich fahre, zu welcher Uhrzeit ich das Haus verlasse. Sie haben mich auf dem Radar, so wie alle Journalist:innen in dieser Stadt. Ich kann also kein Risiko eingehen.

ALA: Erzähl uns ein bisschen über deinen Alltag als Journalistin. Wo triffst du dich zum Beispiel mit deinen Informant:innen?

Roselia: Je nachdem, wer es ist und von wem ich den Kontakt habe, treffe ich die Leute bei mir Zuhause, aber normalerweise gehe ich an öffentliche Orte – aus Sicherheitsgründen. Wenn ich in entlegene Dörfer fahre, mache ich eine Art Protokoll: Bevor ich losfahre, sage ich meinen Leuten Bescheid, wo ich hinfahre, mit wem ich unterwegs bin, wann ich dort sein sollte, wann ich zurück sein sollte, wer mein Kontakt ist. Ich habe auch eine Karte mit Risikogebieten und problematischen Gruppen erstellt. Das habe ich alles in Workshops und Schulungen gelernt. Aber sich in diesem Land fortzubilden, ist teuer.

ALA: Wurdest du jemals bedroht?

Roselia: Nein, zum Glück nicht, weil ich immer aufgepasst habe. Aber es wurde schon versucht, mich zu diskreditieren, weil ich Korruption aufgedeckt habe.

ALA: Was sind heikle Themen für Journalist:innen in Mexiko?

Roselia: Korruption auf allen Regierungsebenen, Drogenhandel, organisierte Kriminalität, sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen. Migration ist auch ein Thema. Wenn man mächtige Gruppen anprangert, die diese kriminellen Organisationen unterstützen – wie zum Beispiel die Bundespolizei oder die Migrationsbehörden. Und Kaziken5! Bei der Arbeit mit indigenen Gemeinden kann es auch gefährlich sein, die Interessen der Kaziken zu thematisieren.

ALA: Wie entscheidest du, wie weit du gehst?

Roselia: Wenn ich zum Beispiel über den Widerstand von (indigenen) Gemeinden gegen Großprojekte berichte, fühle ich mich relativ sicher, weil sie mir die Informationen geben, also sind sie auf meiner Seite. Gefährlich wird es, wenn sie eine bestimmte Person beschuldigen, die damit zu tun haben könnte und in irgendwelche illegalen Sachen verwickelt sein könnte. Dann bremse ich mich oder breche die Recherche ab. Oder ich versuche einen anderen Weg zu finden, die Thematik darzustellen. Ich habe in den letzten 20 Jahren gelernt, wo ich mich raushalten sollte, wie und was ich schreiben kann, wie ich mich schütze und dass ich nichts ohne Beweise veröffentlichen sollte. Sonst habe ich schnell eine Kugel im Kopf.

ALA: Hast du Angst, dass dir etwas passieren könnte?

Roselia: Bisher nicht, weil ich mich nicht in gefährliche Dinge einmische. Wenn ich über Korruption berichte, versuche ich mich so gut es geht zu schützen. Ich schreibe nicht einfach irgendwas, weil ich weiß, wie gefährlich es in diesen Zeiten ist.

ALA: Welchen Unterschied macht es, in diesem Beruf eine Frau zu sein?

Roselia: Früher war es schwieriger als heute, denke ich. Für mich war es eine Herausforderung. Ich musste beweisen, dass ich genauso gut wie meine männlichen Kollegen war, die im Zweifel sogar schlechter vorbereitet waren als ich. Außerdem gibt es hier sehr wenige Journalistinnen. Das ist ein Beruf, der viel abverlangt. Du arbeitest die ganze Zeit. Wenn du Mutter bist, musst du diesen Job auch noch machen. Du musst also doppelt- oder dreimal so viel arbeiten, wenn du erfolgreich sein willst. Für mich ist es nicht so kompliziert, weil ich keine Kinder habe. Niemand ist von mir abhängig, außer mein Hund (lacht). Manchmal werden Frauen für den gleichen Job schlechter bezahlt als Männer. Ich habe diese Erfahrung auch schon gemacht.

ALA: Du bist auch Zapotekin.6 Welche Rolle spielt das für deine Arbeit?

Roselia: Die Sprache hat mir geholfen, Zugang zu den [indigenen] Gemeinden zu finden. Es ist nicht dasselbe, wenn jemand nur Spanisch spricht. Sie identifizieren sich mit mir, setzen sich mit mir hin und fangen an zu erzählen. Sprache kann eine Barriere sein – und ein großer Vorteil. In meinem Fall hat sie mir viel geholfen.

ALA: Wie gehst du damit um, wenn du erfährst, dass ein:e Kolleg:in umgebracht wurde?

Roselia: Als Heber, der besagte Freund von mir, ermordet wurde, war ich geschockt. Ich habe nicht verstanden, warum sie ihn umgebracht haben. Ich sollte die Nachricht dazu schreiben, aber ich konnte nicht. In dieser Nacht habe ich nicht geschlafen. Ich war so aufgewühlt, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Danach wurden Workshops organisiert, in denen wir gelernt haben mit solchen Situationen umzugehen. Für mich ist es sehr schwer. Dieses Ereignis und der Todesfall eines anderen Kollegen haben mich wirklich am Journalismus zweifeln lassen. Aber ich sage mir: Solange ich vorsichtig bin und mich nicht mit den falschen Leuten einlasse, kann ich weitermachen.

ALA: Das ist eine Seite der Medaille. Was ist die andere?

Roselia: Zu wissen, dass du etwas bewegen kannst. Dass eine Nachricht ein Leben verändert. Dass Journalismus Unterschiede macht, befriedigt mich zutiefst. Wenn wegen deines Artikels eine Mutter Gerechtigkeit erfährt oder ein Krimineller hinter Gitter kommt. Wenn eine Gemeinde asphaltierte Straßen bekommt, weil ein Verantwortlicher meine Reportage gelesen hat und sich der Sache annimmt. Das ist ein Erfolg. Du kannst etwas Kleines erreichen. Diese Dinge motivieren mich, mit dem Journalismus weiterzumachen. Dafür lohnt es sich.

  1. Reporter ohne Grenzen, 2022 ↩︎
  2. Der sogenannte Krieg gegen den Drogenhandel (Guerra contra el Narco) wurde 2006 vom damaligen Präsidenten Felipe Calderón mit massiver Unterstützung der USA initiiert. Seither bekämpfen sich Einheiten des mexikanischen Staates (Bundespolizei, Militär und Marine) und die Drogenkartelle. Nach offiziellen Angaben sind dabei bis Januar 2023 mehr als 431.000 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 94.000 Personen werden vermisst (Excelsior 2023, bpb 2020). ↩︎
  3. Isthmus = Landenge
    Roselia spricht hier vom Isthmus von Tehuantepec, der schmalsten Stelle Mexikos, die sich im Südosten des Landes befindet und nur rund 200 km breit ist. ↩︎
  4. Der sogenannte Interozeanischer Korridor (IK) ist ein infrastrukturelles Megaprojekt in der Landenge von Mexiko, dem Isthmus von Tehuantepec. Perspektivisch soll der IK dem Panamakanal Konkurrenz machen – als attraktive Landroute für den Warentransport zwischen Pazifik und Golf/Atlantik. Herzstück des IKs ist die Modernisierung der Häfen von Salina Cruz (Pazifik) und Coatzacoalcos (Golf) und die Renovierung der Eisenbahnstrecke zwischen diesen beiden Häfen. Einige der geplanten Maßnahmen sind bereits in Umsetzung, andere noch nicht. Der IK ist jedoch vor allem in der indigenen und lokalen Bevölkerung sehr umstritten, weil er zu zahlreichen (Land-)Konflikten in der Region führt. Ich war im Sommer 2022 vor Ort und habe mit Betroffenen gesprochen – Beitrag folgt! ↩︎
  5. Kazike, der:
    1. Häuptling bei indigenen Bevölkerungsgruppen Süd- und Mittelamerikas
    2. Titel eines indigenen Ortsvorstehers in Mexiko und Guatemala bzw. Träger dieses Titels (duden.de)
    Mehr Infos: FU Berlin ↩︎
  6. Auf Zapotekisch: Binnizá (binni = Menschen, zá = Wolke > Menschen, die aus den Wolken kommen)
    Die Binnizá sind eine von 62 indigenen Bevölkerungsgruppen Mexikos und sind im Isthmus von Tehuantepec beheimatet. Ihre Sprache ist Diidxazá/Zapotekisch. Eine Besonderheit bei den Binnizá ist das dritte Gender der sogenannten Muxes: Sie sind bei ihrer Geburt dem männlichen Geschlecht zugeordnet worden, übernehmen aber Aufgaben des weiblichen Genders in der Gesellschaft und kleiden/schminken sich auch dementsprechend. Oft tragen sie die traditionelle zapotekische Tracht der Frauen*, genannnt Tehuana (Bild) (Presidencia de la República, 2022; INPI 2017; UNAM 2019). ↩︎

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